Anno 1997, Frühling, Zeit des Entstehens, Zeit, romantische Lyrik zu lesen oder selbst Hand an die Feder zu legen, blasses Papier mit blauen Klecksen zu bekritzeln, um sprießende Bäume, keimende Blumen, kurz: die ganze Schöpfung zu preisen.
Stattdessen quält sich, traurig aber wahr, ein Nachruf, zeitlich verirrter Dilettant, aus dem Füller. Vor zweieinhalb Jahren traten wir zusammen, unsere humanistische Ausbildung im Leistungskurs Deutsch unter Herrn Bittroffs Leitung zu vollenden, voller Hoffnungen, voller Ideale.
Mühsam erklommen wir, immer am Rande des geistigen Abgrundes wandelnd, Epoche für Epoche. Angefangen bei Werthers Leiden, die einige Schüler gar bewogen, sich überschwängliche Liebesbriefe zu schreiben, erfuhren wir bei Lessing, Kant (Aufklärung ist...?) und Brecht (Herr Claus liebte unseres Lehrers Langspielplatte der "Dreigroschenoper"!), dass es eine Aufklärung außerhalb des Biologieunterrichtes gibt, was Herr Bittroff uns mit dem nötigen Einfühlungsvermögen beizubringen wusste. Wir trauerten um Effi B., fluchten auf Franz K., schwangen uns auf Kreuzgangs Flügeln in die Nacht, kapitulierten mit Danton und verstanden erst in 13/I, als wir den Steppenwolf lasen, was Herrn Bittroffs ewiges Lächeln bedeutet und warum er uns beinahe alles verzieh. Schließlich lasen wir auch die Geschichte eines gewissen Dr.Faust. Man kann sagen, dass die meisten von uns angesichts unseres baldigen Scheidens aus unserem LK gern die Wette vollenden und zu unserer letzten Stunde sagen würden: Verweile doch, du bist so schön! Aber schließlich haben wir auch weitergelesen und kennen das bittere Urteil Mephistos: So ist denn alles, was entsteht, wert, dass es zu Grunde geht. Ergo gehen wir jetzt alle zusammen, wenn auch nicht zu Grunde, so doch wenigstens von der Schule und nehmen unseren magister artium gleich mit, voller Stolz, sein letzter LK gewesen zu sein, auf weinfarbenem Meer zu anderen Menschen.
Marcel Wagner
auch ich bin grad am weg am Gehn - wie der Osterfelder so treffend übersetzt, und gleich die Frage: quo vadis - wo gehsse? Und da liegt jetzt der große Unterschied zwischen Ihrem und meinem Abgang. Sie haben kaum die Vorspeise genossen, mustern jetzt die Karte für das Hauptgericht: Eine Fülle von Angeboten: Endlich können Sie in Ruhe die Romane zu Ende lesen, die wir im LKD so eingehend behandelt haben, endlich sich auf den akademischen Weg zu etlichen Doktor- und Kardinalshüten machen oder zunächst mal nach anstrengendem Spätdienst in der Cola Oase ruhig und entspannt ausschlafen, ohne verzweifelt nach überzeugenden Formulierungen bei Entschuldigungen für Herrn Grumpe zu suchen. "...oh wie selig kann der fliegen, dem der Traum die Flügel schwingt..." hieß es in Ihrer letzten Klausur. Wohin der Traum Sie führt? Ach, das ist doch für Sie Nebensache. Erst einmal nur weg. Ihr Glücklichen! Valete!
Und ich? Mir bleibt noch der Nachtisch; den habe ich aber auch sonst immer ausgelassen, also nur noch Käse? Und schon seh ich um mich die besorgten, mitleidigen Mienen: der wird ja jetzt auch pensioniert - Sach nur? Mein Gott, was macht son Mann da bloß - furchtbar! Mehr kann der doch schon nicht mehr lesen - noch mehr verreisen? Unmöglich - und sonst? Der hat doch nur Lehrer gelernt. Gartenarbeit? Hat er wirklich keine Ahnung - kennt nur Stiefmütterchen - und nur die blauen. Aber da ist doch die Enkelin - Könnter doch mit spazieren und so...
Glauben Sie! Kinder! Die fragen! "Opa, was ist das für ein Baum?" – "Eine Buche" – "Und der?" – "Auch eine Buche." – "Aber der sieht doch ganz anders aus." – "Ist auch ne andere Buche." Was meinen Sie, wie lange das ein normal begabtes Kind mitmacht? Und erst bei Blumen, Vögeln und son Kleinkram! Jeder Rentner hat seine gepflegte Schwarzarbeit - aber ein pensionierter Lehrer? Aber: Moment mal - das wär doch was, das könnte auch ein pensionierter Lehrer noch lernen - da müsste ich mal einen Chemiker fragen, Dr. Diallo vielleicht, was man dazu so braucht, als Schwarz-Brenner - und Stefan vermittelt mir dann vielleicht einen Stand in der Oase: Im Angebot:
"Heines Tränen, Jahrgang 1997, ca 75%"
Werner Bittroff