Ein beliebiger Montagmorgen
10:05
Einige Schüler lachen noch über den LK am vergangenen Freitag und fragen sich, wie voll es denn wieder am Kopierer ist.
10:08
Der Kurs bemerkt die Geräusche schwerer Armeestiefel im Treppenhaus.
10:09
Tür auf, Herr Claus betritt den Raum, wie immer schwer im Stress. "Good morning everybody!" Ein bis 2½ Schüler murmeln: "Good morning (...Sir)". Dann geht's los (oder auch nicht): "Sorry for my being late, but Mr Luft (oder Herr Möllmathe, oder "der Chef") fragte mich, ob...!" Im Anschluß geräuschvolles Fensterschließen ("Ist der Deutsch LK heute wieder laut!") und evtl. Tische und Stühle verrücken.
10:11
Der Fachlehrer sitzt.
10:12
Die Tür geht auf, Natascha kommt herein, wir sind komplett (in Ausnahmefällen).
Als nächstes wird die Anwesenheit des gesamten Kurses (11/2: 11; 12/1: 8; 12/2: 9; 13/1: 7; 13/2: 6 !!!) mit Hilfe des detaillierten Sitzplanes und der Kursliste akribisch überprüft. Nun steht der Fachlehrer auf und baut sich mit offen gehaltenen Händen kommentarlos vor einem der hilflosen Schüler mit schon schlechtem Gewissen auf und fordert im Anschluss noch ausstehende Berichtigungen (corrections), Entschuldigungen oder Ähnliches ein. Entschuldigungen werden an Ort und Stelle ebenfalls genau geprüft, das Ergebnis wird in der dafür vorgesehenen Kursmappe festgehalten, z. B. Art und Dauer der Krankheit. Damit nicht genug: Das Repertoire reicht von ironischen Bemerkungen ("Wie war denn die Feier?") über sarkastische Andeutungen bis hin zu unzumutbaren, makaberen und unverschämten Fragen ("Gibt es für den Tod deines Vaters auch eine offizielle Bescheinigung?"). Auf seine Mitgliedschaft in der Deutsch-Englischen Gesellschaft nicht ohne Stolz hinweisend, verteilt unser sogenannter Fachlehrer in regelmäßigen Abständen Einladungen zu Vorträgen (in englischer Sprache), die von den eifrigen Kursteilnehmern immer in stiller Dankbarkeit abgelehnt werden. In den meisten Fällen gelingt es dem Fachleiter erst kurz vor der Pause, mit dem hochqualifizierten Unterricht (?) zu beginnen, da es im Kurs immer wichtige organisatorische Dinge zu regeln gibt, z. B. die Planung der Kursfahrt nach London, Diskussionen über Bergwerksbesuche, Kataloge wälzen für die neue Lektüre oder Lästern über Kollegiumsmitglieder oder andere Personen an unserer Schule ("Immer diese Hausmeister" nach einer Störung durch Frau Miesemer). Sie nahm bestimmt ebensoviel Zeit in Anspruch, wie die hochinteressante, 1½ Seiten umfassende Kurzgeschichte "The Lapse", die den Kurs (oder vielleicht mehr den Fachlehrer) insgesamt 9 Stunden in Anspruch nahm.
Sehr häufig wurde der Kurs auch über interessante Sachen aus seinem Privatleben, seine Frau, sein Sohn, seine Nachbarn, seine Freunde (?) informiert. Meist wurden wir erst durch das Pausenschellen hiervon erlöst, und wir kamen nach 40 Minuten zum zweiten Mal in den Genuss der Englischkünste des Fachlehrers: "Okay, five minutes break". Die versprochenen fünf Minuten wurden oftmals verkürzt. Die rauchenden Kursmitglieder gerieten in arge Nöte, wurden im Ernstfall ausgesperrt, aber wenn dann schließlich die Tür geschlossen war, schien der Fachlehrer entschlossen zu sein, endlich mit dem Unterricht zu beginnen. Manchmal gelang es uns noch, Herrn Claus dann mit taktisch günstigen Fragen wieder aus seinem imaginären Konzept zu bringen: "Wann kriegen wir die Klausuren wieder?" (8 Wochen für 6 Klausuren); "Was ist mit den SoMi-Noten", "Was kommt in der nächsten Klausur vor?" Meist bekamen wir erzählt, dass er schon wieder einmal bis ein Uhr nachts korrigiert oder an Abiturvorschlägen gebastelt hat, und wir wurden wieder einmal vertröstet.
Wo wir dann mal wieder nicht beim Thema sind, gelingt es uns oft durch eine simple Frage, den Fachlehrer zu endlosen Monolgen über die abwegigsten Themen zu bewegen: Die Stellung der Frau, inkompetente Ärzte, der 2.Weltkrieg, der letzte Klatsch und Tratsch über die englische Königsfamilie, Mannschafts- und Offiziersgrade bei der Bundeswehr, seine Zeit bei der Marine, die üblichen militärischen Grüße.
Lustig auch die in Ausnahmefällen hiermit verbundenen "Hilfszeichnungen", wobei unser Fachlehrer ungeahnte Talente entwickelte, wenn es z. B. darum ging, die Unterschiede zwischen deutschen und britischen Doppeldeckern im zweiten Weltkrieg grafisch zu demonstrieren.
Manchmal eskalierte die Lage zum Unterricht, wobei es dann meist um eine unserer zahlreichen (?) Lektüren ging. Zum qualifizierten Unterricht auf Leistungskursniveau, jedenfalls laut der Richtlinien, die der Fachlehrer anscheinend im Schlaf beherrscht, ist nicht viel zu sagen. Der Unterricht war oftmals auf Sek I-Niveau, fand meistens auf Deutsch statt, war stinklangweilig, und die erzwungene mündliche Beteiligung (kein Wunder bei sechs Leuten) wurden noch nicht einmal durch entsprechende Noten belohnt; mit einem Wort, es war sch....ade, dass so viel Zeit vergeudet wurde.
Eine besondere Freude wollte uns Herr Claus bereiten, wenn es am Ende der ersten Stunde hieß: "Wir gehen in den Erdkunderaum!" Der Kurs wusste genau, das bedeutet: "Step in" mit der bezaubernden Inez Sharp! Nachdem man sich dann an die hervorragenden klimatischen Verhältnisse im Erdkunderaum gewöhnt hatte, konnte man sich darauf freuen, Herrn Claus im direkten Zweikampf mit Fernseher und Videorecorder zu beobachten.
Unser wichtigstes Hilfsmittel, das Dictionary, glänzte in den meisten Fällen durch Abwesenheit. Wenn es dann doch einmal da war, diente es dazu, dem Fachlehrer auf die Sprünge zu helfen ("Wie hieß das Wort denn noch?"), ihn ggf. zu berichtigen oder einfach nur durch eifriges Blättern Arbeitswut vorzutäuschen.
Lustige Erlebnisse hatten wir ausnahmsweise beim gemeinsamen Ausflug nach Warner Bros. Movie World (die Frisur des Leerers nach der Achterbahnfahrt war ein göttlicher Anblick), Herr Claus überprüfte ständig das Material der Requisiten und verzehrte mitten in Gotham City sein mitgebrachtes Hähnchenschnitzel, das seine Frau liebevoll in eine umweltfreundliche Plastiktüte eingewickelt hatte.
Einen traurigen Höhepunkt bildete die Kursfahrt nach London, bei der sich der Lehrer in einer Kirche u.a. mit dem Kommentar: "Ich schlag' dich zusammen, du dummes Stück Scheiße" gegenüber einem Kursmitglied bei uns noch beliebter machte.
Die skurrile Lebensauffassung unseres Lehrers geht sogar so weit, dass er ja am liebsten das gute, alte Dreiklassenwahlrecht wiedereinführen würde. Denn wer so viel Steuern zahlen muss wie er, obwohl seine Arbeit ja eigentlich noch viel zu schlecht bezahlt wird, der sollte auch mehr Mitspracherecht bekommen. Wenn man schon mal dabei ist, sollte es seiner Meinung nach Eltern auch gleich erlaubt werden, missgeblidete Kinder, die eine unzumutbare Belastung für die schwer arbeitenden Väter (die mit der strengen Hand) und auch für die weichherzigen Mütter darstellen, zu ... ("die Hebamme könnte das Kind ja einfach aus Versehen fallen lassen").
Es ist zwar längst nicht alles gesagt worden, aber wir haben es z.T. bestimmt geschafft, selbst wenn alle Schreiber dieses Artikel entweder weiblich, langhaarig, Raucher, Arztsöhne oder Kriegsdienstverweigerer sind.
Wir wünschen unseren Nachfolgern viel Kraft auf ihrem Leidensweg, viel Mut zum aktiven Widerstand gegenüber frauenfeindlichen oder Rassen diskriminierenden Aussagen, Tätigkeiten und sonstigen Schweinereien, wie wir sie jedenfalls in unserem Schulalltag z.T. erlebt haben, auch wenn es einige wenige glückliche Momente gegeben haben soll, an die sich die Schreiber dieses Artikels zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht erinnern können.
Die geringe Anzahl der Kursteilnehmer machte es möglich, dass alle von uns an diesem Artikel mitwirken konnten, sogar Frauen.
Natascha Bey, (aj), Nadine Müller, Nick Oberheiden, Verena Ortmann und Christian Zatryp